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Interview: „Das Steuersystem hält Frauen davon ab, mehr zu arbeiten“

14.10.2025

Politologin Laura Seelkopf erklärt im Interview, wie Steuergesetze diskriminieren und welche Folgen das Ehegattensplitting für die Gesellschaft hat.

Laura Seelkopf, Professorin für Internationale Vergleichende Policyforschung, untersucht, wie Steuersysteme Menschen ungleich behandeln. Im Interview erläutert sie, welche Auswirkungen das in Deutschland hat.

Sie schreiben in einem aktuellen Beitrag im Journal of European Public Policy, dass Steuersysteme Frauen benachteiligen. Woran liegt das?

Laura Seelkopf: Es gibt zwei Arten, wie der Staat über das Steuersystem diskriminieren kann: direkt und indirekt. Eine direkte Diskriminierung ist zum Beispiel, wenn Ehefrauen das Finanzamt nicht kontaktieren dürfen, was in Deutschland bis in die 1980er-Jahre so war. Indirekte Diskriminierung ist es dann, wenn Frauen und Männer im Gesetzestext zwar nicht separat genannt, also offiziell alle gleich behandelt werden, aber die Frau durch ihre soziokulturelle Stellung in der Gesellschaft einen höheren Steuersatz hat.

Wenn es sich nicht lohnt, mehr zu arbeiten

Wie zeigt sich das zum Beispiel?

Das sieht man ganz klar bei der Einkommenssteuer. In Ländern wie Deutschland, in denen verheiratete Paare gemeinsam veranlagt werden (das sogenannte Ehegattensplitting), haben verheiratete Frauen im Durchschnitt einen höheren Steuersatz als ledige. In Deutschland und Belgien ist diese Diskriminierung von Frauen europaweit am höchsten.

Wie kommt es zu diesem Effekt?

Beim Ehegattensplitting wird das Einkommen des Ehepaars gemeinsam veranlagt. Der Erstverdiener mit dem höheren Einkommen, in der Regel der Ehemann, erhält eine Steuerreduktion, während die Frau als Zweitverdienerin eine Steuererhöhung bekommt. Das ist für das Paar insgesamt gut, heißt aber nicht, dass die Individuen bessergestellt sind.

Beim Ehegattensplitting wird die Ehe als Haushalt gesehen und die Annahme ist, was darin passiert, geht den Staat nichts an. Wenn beide ähnlich verdienen, hat es keinen Effekt. Aber wehe, wenn nicht. Das Problem ist, dass Paare diesen Vorteil des Ehegattensplittings für den Erstverdiener sehr häufig nicht untereinander ausgleichen. Das führt unter anderem dazu, dass Frauen im Fall einer Scheidung armutsgefährdet sind. Und das liegt daran, dass sie weniger gearbeitet haben, als sie womöglich gearbeitet hätten, wenn sie anders besteuert worden wären.

Woran liegt es, dass Frauen wegen des Ehegattensplittings weniger arbeiten?

Eine Frau, die z.B. nach der Elternzeit wieder anfangen will zu arbeiten, überlegt natürlich, wie viel Geld sie verdienen wird und wie viel Steuern sie dafür zahlen muss. Ist sie unverheiratet, muss sie zunächst gar keine Steuern zahlen, weil die ersten ca. 12000 Euro gar nicht besteuert werden, ab dann steigt der Steuersatz progressiv an. Bei einer verheirateten Frau dagegen beginnt ihr effektiver Steuersatz dort, wo der des Manns aufhört. Sie muss also von Anfang an Steuern zahlen und die sind deutlich höher, als wenn sie nicht verheiratet wäre. Das führt dazu, dass es sich für sie unter Umständen nicht lohnt, zu arbeiten, wie eine Simulation von Alexander Bick und Nicola Fuchs-Schündeln aus dem Jahr 2017 zeigt.

Verschenkte Potenziale, weniger Wirtschaftswachstum

Das Ehegattensplitting kann also deutliche Nachteile für Frauen haben. Aber hat es auch Folgen für die Gesellschaft?

Sicher. Frauen sind im Durchschnitt genauso gut gebildet wie Männer, ihre potenzielle Produktivität ist gleich hoch. Beide werden kostenlos an den Schulen und Hochschulen ausgebildet. In Deutschland gibt es einen Arbeitskräftemangel, der aus demographischen Gründen schlimmer werden wird, aber das Steuersystem hält viele Frauen davon ab, mehr zu arbeiten. Verbunden mit der ablehnenden Haltung von Arbeitgebern, Frauen in Teilzeit Führungspositionen zu geben, führt das dazu, dass wir als Gesellschaft sehr gut ausgebildete Personen ganz aus dem Arbeitsmarkt oder in Jobs drängen, in denen sie weniger produktiv sind, als sie sein könnten. Das führt zu weniger Arbeit und Wirtschaftswachstum. Es gibt Schätzungen, dass es das Wirtschaftswachstum jährlich um 0,6 Prozentpunkte erhöhen würde, wenn Frauen gleichgestellt würden. Diese Form von Geschlechterdiskriminierung ist also nicht nur für Frauen nachteilig, sondern für alle.

Würde man das Ehegattensplitting abschaffen, wie es beispielsweise in Schweden in den 1970ern geschehen ist, fangen Frauen deutlich mehr an zu arbeiten – entweder weil sie überhaupt eine Arbeit aufnehmen oder deutlich mehr Stunden arbeiten. Umgekehrt hören Männer nicht auf zu arbeiten. Daran sieht man, dass die soziale Norm für Männer ist, voll zu arbeiten. Deswegen reagieren sie viel weniger auf steuerliche Anreize als Frauen.

Wegen dieses Effekts gibt es den Vorschlag renommierter Ökonomen, dass Frauen im Durchschnitt beim selben Einkommen einen niedrigeren Steuersatz zahlen sollten als Männer, weil sie weniger stark darauf reagieren. In der Realität passiert das Gegenteil dadurch, dass wir in Deutschland beide steuerlich gemeinsam veranlagen.

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29.09.2025

Wie Steuern das Verhalten ändern

Warum wird das Ehegattensplitting dann nicht einfach abgeschafft?

Seit den 1980er-Jahren gab es mehrere Vorschläge, um die Einkommenssteuer zu reformieren. Die Reformen scheiterten alle. Vermutlich, weil es gegen die Interessen von gut verdienenden Paaren und den Erstverdienenden in diesen Paaren ist. Denn das Ehegattensplitting hilft vor allem Paaren, bei denen der Verdienstunterschied groß ist und je höher das Einkommen des Erstverdieners ist. Das ist politisch sehr schwierig anzupacken.

Ein häufiges Argument gegen eine Abschaffung des Ehegattensplittings ist der sogenannte Vertrauensschutz. Also die Idee, dass man dann Paare bestraft, die das klassische Familienmodell auch aufgrund des Steuersystems gewählt haben und sich hierauf eingestellt haben. Wo man dies allerdings getan hat, war im Scheidungsrecht. Für alle Frauen, auch die seit Jahren im klassischen Familienmodell lebenden, ist im Jahr 2008 entschieden worden, dass sie im Fall einer Scheidung kein Anrecht mehr haben auf Gehaltsteile des ehemaligen Partners und bald wieder arbeiten müssen, selbst mit relativ kleinen Kindern. Das Vertrauensschutz-Argument sollte also entweder für alle gelten oder für keinen, nicht nur für gut verdienende Ehemänner.

Seit 2013 gilt in Deutschland das Ehegattensplitting auch für homosexuelle Paare. Welche Effekte hatte das?

Ein Paper aus dem ifo-Institut zeigt, dass sich homosexuelle Paare genauso wie heterosexuelle an das Ehegattensplitting anpassen und der Zweitverdiener weniger arbeitet. Das Steuersystem reflektiert also nicht nur eine gesellschaftliche Norm, sondern führt dazu, dass plötzlich Männer oder Frauen ihr Verhalten innerhalb ihrer Partnerschaft ändern, weil einer zum Erst-, der andere zum Zweitverdiener definiert wurde. Die Idee eines effizienten Steuersystems dagegen wäre, dass Steuern eingenommen werden, ohne unsere Lebensentscheidungen zu beeinflussen.

Weiter forschen um indirekte Diskriminierung aufzudecken

Gibt es andere Beispiele für indirekte Diskriminierung als das Ehegattensplitting?

Ähnlich ist es bei der Einkommenssteuer und den Möglichkeiten, was abgesetzt werden kann. Die Pendlerpauschale, den Weg zur Arbeit, kann man voll absetzen. Davon profitieren vor allem Männer. Sie haben im Durchschnitt einen weiteren Weg zur Arbeit als Frauen, weil sie auch häufiger voll arbeiten und Hauptverdiener sind. Was man aber nicht voll absetzen kann, sind zum Beispiel Kinderbetreuungskosten. Fehlende Kinderbetreuung ist aber eines der Haupthindernisse für Frauen, um überhaupt oder mehr arbeiten zu können. Daran sieht man, dass das Steuersystem für eine Gesellschaft entwickelt wurde, in der das männliche Hauptverdiener-Modell vorherrscht. So ist unsere Gesellschaft aber nicht mehr.

Unsere Gesellschaft hat sich auch dahingehend geändert, dass offener über Menstruation geredet wird, was mit dazu geführt hat, dass die Tamponsteuer viel diskutiert wurde.

Ja, die sogenannte Tamponsteuer hat indirekte Diskriminierung sehr eindrücklich gezeigt. Sie wurde in Deutschland im Jahr 2019 reformiert. Der Hintergrund ist, dass bestimmte Produkte mit einem niedrigeren Mehrwertsteuersatz besteuert werden, Brot zum Beispiel. Tampons wurden sehr lange und werden in vielen Ländern noch immer mit dem normalen Mehrwertsteuersatz besteuert. Viagra und Kondome aber beispielsweise nicht.

Andere Dinge fallen weniger auf und lassen sich nicht so gut politisieren. Die indirekte Geschlechterdiskriminierung im Steuersystem ist eben auch so verdeckt, weil sie über die soziokulturellen Positionen in der Gesellschaft wirkt.

Was auch noch hinzukommt: Die meisten Beispiele, die ich bislang genannt habe, sind sehr westlich. Vor allem die Einkommenssteuer ist in vielen Teilen der Welt weniger wichtig, hier finanzieren Staaten sich mehr über Konsumsteuern. Die meisten Menschen, die von Geschlechterdiskriminierung, inklusive im Steuersystem, betroffen sind, leben aber außerhalb entwickelter Demokratien. Darüber muss auf jeden Fall noch viel geforscht werden.

Laura Seelkopf hat die Professur für Internationale Vergleichende Policyforschung am Geschwister-Scholl-Institut der LMU inne. Im Projekt „Gendered Political Economy of Taxation” verfolgt sie das Ziel, zu erklären, warum sich Geschlechterdiskriminierung im Steuersystem nachhaltig hält. Zudem arbeitet sie an einer systematischen Analyse, in welchen Ländern welche Steuerreformen stattgefunden haben und welche Faktoren zu mehr Geschlechtergleichheit im Steuersystem führen.

Publikation:

Laura Seelkopf: Invisible, but taxed: Gender, Power, and the Tax State. In: Journal of European Public Policy 2025. DOI: 10.1080/13501763.2025.2491755

Weitere im Interview genannte Publikationen:

Anne Kingma and Anneleen Vandeplas: The Macro-Economic Benefits of Gender Equality. In: Economic Brief 071 European Commission 2022

Alexander Bick and Nicola Fuchs-Schündeln: Quantifying the desincentive effects of joint taxation on married women’s labor supply. In: American Economic Review 2017

Elena Herold, Leonie Koch and Carina Neisser: Disentangling Gender Norms and Tax Incentives: Analyzing Joint Taxation among Same-Sex Couples. Conference Paper. Ifo Institute

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